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Wege zum Nachbarn

Die Gruppe der Studienreise vor dem Kopernikus-Haus in Thorn/Toruń © Ostpreußisches Landesmuseum.

Eine Studienreise auf den Spuren von „Levins Mühle“ von Johannes Bobrowski vom 14.07. bis 22.07.2025

Ein Reisebericht von Edda Fricke und Peter Lehrmann

Ausgehend von dem Wunsch der Internationalen Johannes-Bobrowski-Gesellschaft (IJBG) seit 2019 entstand in Zusammenarbeit mit Agata Kern, der Kulturreferentin am Ostpreußischen Landesmuseum (OL) in Lüneburg, eine Rundreise, die von den Orten in „Levins Mühle“ von Johannes Bobrowski angeregt Lebensorte der Familie Bobrowski, Themen des Schriftstellers Bobrowski und Geschichte, Kultur und Gegenwart Polens in den Blick nahm.

Kennenlernen in Thorn/Toruń

Als Ausgangsort wählten wir Thorn/Toruń, das zum UNESCO Weltkulturerbe gehört, weil es in der Nähe des Flusses Drewenz im Kulmer Land liegt und weil es der Geburtsort von Nikolaus Kopernikus ist. Der erste Abend gab Möglichkeit zur Vorstellungsrunde der 28 Teilnehmer: Bobrowski-Interessierte aus ganz Deutschland und sogar England. Die Reiseteilnehmer erhielten eine Mappe mit Texten, die Prof. Andreas Degen, der stellvertretende Vorsitzende der IJBG, zusammengestellt hatte. Claudia Holland gab eine Einführung in die Biographie von Kopernikus und die Frühgeschichte der Astronomie.

Am folgenden Tag lernten wir während einer kompetenten Stadtführung das heutige lebendige Leben in mittelalterlich-pittoresken Mauern kennen, die unter anderem ein von uns besuchtes Kopernikus–Museum in seinem Geburtshaus beherbergen. Bei einer Schiffsfahrt auf der Weichsel genossen wir den Blick auf die Silhouette der Thorner Altstadt und erlebten einen der großen Ströme Europas, der die Entwicklung Thorns als Hansestadt ermöglichte.

Die Gruppe der Studienreise vor dem Kopernikus-Haus in Thorn/Toruń © Ostpreußisches Landesmuseum.
Die Gruppe der Studienreise vor dem Kopernikus-Haus in Thorn/Toruń © Ostpreußisches Landesmuseum.

In Vorbereitung auf den nächsten Tag diskutierten wir über die DDR – Verfilmung von „Levins Mühle“. Einige Teilnehmer hatten sich durch die ihnen bekannte Verfilmung zu unserer Reise anregen lassen. Andere Teilnehmer hatte der Film angeregt, ihre Lesebilder mit den Filmbildern zu vergleichen.

Auf den Spuren von „Levins Mühle“

Am Tag drei fuhren wir zunächst, weil es heftig regnete, zur Burg Gollub (Golub-Dobrzyń), die oberhalb der Stadt an der Drewenz liegt – dem Fluss, der zu der Zeit, zu der „Levins Mühle“ spielt, der Grenzfluss zwischen Preußen und Kongresspolen (Russland) war.

Burg Gollub © Edda Fricke.
Burg Gollub © Edda Fricke.

Weil der Busfahrer sich gut vorbereitet hatte, fanden wir zügig eine Zufahrt zu den abgelegenen Orten von Levins und des Großvaters Orten an der Struga, dem Nebenfluss der Drewenz. Wir wussten, dass Bobrowski diese Orte nur aus Erzählungen und Recherchen kannte und die alte Kriminalgeschichte in seinem Sinne literarisch verändert hatte.

In Briesen/Wąbrzeźno empfing uns das Lokal „Stary Młyn“ (Alte Mühle) mit einer heißen Gemüsesuppe, bevor wir spekulierten, ob die Post mit ihren grünen Ziegeln und Türmchen das Kreisgericht aus dem Roman „Levins Mühle“ gewesen sei und wo am rundum restaurierten Marktplatz „Wiezorreks Deutsches Haus“ und die Wohnung vom Großvater und Tante Frau gewesen sein könnten. Hier wie andernorts lasen wir die entsprechenden Textstellen in Bobrowskis Roman und kehrten am Abend ob des Gesehenen und Gelesenen erfüllt ins Hotel zurück.

Am Folgetag in Strasburg/Brodnica lasen wir einige Stellen aus dem Roman, überquerten die Drewenz, konnten aber die Orte wie das „Deutsche Haus“ von Moses Deutsch nicht identifizieren.

Strasburg/Brodnica © Edda Fricke.
Strasburg/Brodnica © Edda Fricke.

Weiter ging es zum Museum und zum Gelände der Schlacht von Tannenberg/Grunwald von 1410 zwischen dem Deutschen Orden und einem vereinigten Heer der Polen und Litauer.
Uns interessierte besonders die Darstellung im heutigen Polen. Die Ausstellung beschränkte sich auf das Spektakel der Schlacht, also Ereignisgeschichte, bot wenig Kontext und Analyse, wusste genau, wer die Guten und wer die Bösen waren, beförderte aber keine Ressentiments.

Vorträge und Austausch in Allenstein/Olsztyn

Am Abend erreichten wir Allenstein/Olsztyn. Am nächsten Tag betraten wir während der Stadtführung die Altstadt durch das Hohe Tor, an das eine Gedenktafel für den Historiker Wojciech Kętrzyński angebracht ist, dem wir in Rastenburg/Kętrzyn wiederbegegnen sollten, der als Adalbert Winkler geboren wurde und später den Namen seiner polnischen Vorfahren annahm. Es folgte unser Besuch des Museums der Erzdiözese Ermland und der gotischen Pfarrkirche St. Jacob.

Die Stadtführung endete im Hof der Burg des Ermländischen Hofkapitels, wo Nikolaus Kopernikus 1515–1516 bzw. 1520–1521 als Domherr tätig war und in seiner Freizeit anhand der Sonneneinstrahlung in einen Raum den längsten Tag des Jahres bestimmte.  Im Hof stehen stilisierte Menschenfiguren aus Stein, sogenannte Baben, die an die Zeit der Prußen erinnern.

Am Nachmittag waren wir Gast bei der Stiftung und Kulturgemeinschaft Borussia, die sich seit 1990 für polnisch-deutsche Verständigung einsetzt. Frau Kurowska berichtete uns über die Arbeit des Vereins und über das ungewöhnliche Gebäude, in dem wir uns befanden. Es ist das Erstlingswerk von dem in Allenstein geborenen und später weltberühmt gewordenen Architekten Erich Mendelsohn (1887-1953), ein Bet Tahara (ein Haus der Reinigung im jüdischen Totenritual), dessen Hauptraum ein viereckiger, konisch nach oben auf eine Art Sternenhimmel mit Davidsstern zulaufender, reichlich verzierter Raum ist.

Plakat, Bobrowski-Vortrag in Allenstein/Olsztyn © Edda Fricke.
Plakat, Bobrowski-Vortrag in Allenstein/Olsztyn © Edda Fricke.

Nach einer kurzen Pause hielt unser Gesellschaftsmitglied und Direktor des Stadtmuseums von Ełk/Lyck Rafał Żytyniec ein öffentliches Referat (deutsch und polnisch) über „Sarmatische Erinnerungslandschaften: Das Werk Johannes Bobrowskis und die deutsch-polnischen Beziehungen“. Die beiden Romane und eine größere Auswahl seiner Erzählungen und Gedichte seien seit den 1960er Jahren hervorragend ins Polnische übersetzt worden, auch weil sie deutsch-polnische Themen aufgreifen, von dem gewalt-, glaube- und kulturbringenden Handeln des Deutschen Ordens im Mittelalter bis zum Eroberungs- und Vernichtungskrieg des NS-Regimes in Polen und Osteuropa von 1939 bis 1945.

Bobrowski habe sich in seinem Werk intensiv mit deutscher Vergangenheit und Schuld auseinandergesetzt und wollte den Deutschen etwas über die östlichen Nachbarn erzählen. Bobrowski habe außerdem geholfen „negative Polenstereotypen“ zu überwinden und damit wesentlich zur deutsch-polnischen Verständigung beigetragen. Im Referat und im anschließenden, angeregten Gespräch ging es um eine Reihe von polnischen und deutschen Autoren und Autorinnen, die über deutsch-polnische Themen geschrieben haben, z. B. Günter Grass, Siegfried Lenz, Stefan Chwin, Pawel Huelle, Szczepan Twardoch, Arno Surminski, Karolina Kuszyk, Steffen Möller und Marcel Krueger, der als ehemaliger Stadtschreiber von Allenstein zugegen war und sich zu Wort meldete.

Auf Reisen

Am sechsten Reisetag fuhren wir zunächst zur Wallfahrtskirche von Heiligelinde/Święta Lipka. Bobrowski hatte eine Radierung der Kirche in seinem Arbeitszimmer sichtbar aufgestellt. Der Ort spielt auch in E.T.A. Hoffmanns Roman „Die Elixiere des Teufels“ eine wichtige Rolle. Die der Sage nach um eine Linde gebaute Barockkirche hat eine wohlklingende Orgel mit beweglichen Figuren. Wir konnten ein kurzes Orgelkonzert erleben.

Die nächste Station war Rastenburg/Kętrzyn, wo die Familie Bobrowski von 1925 bis 1928 lebte und  der Großvater Bobrowski beheimatet war. Johannes besuchte hier die Hippelschule und das damals humanistische Herzog-Albrecht-Gymnasium, vor dem wir dann auch standen. Aus seinem Zyklus „Backsteingotik“ (Sommer 1947) lasen wir das Gedicht „St. Georg in Rastenburg“ über die wehrhafte Pfarrkirche. Schon in Rastenburg begann der junge Bobrowski, Arno Holz zu lesen, der nicht nur in Rastenburg gebürtig war, sondern auch sein elterliches Haus und die darin befindliche Apotheke als Kindheitsparadies in dem Gedichtzyklus „Phantasus“ festhielt.

Auf dem Weg nach Frauenburg/Frombork beendete Claudia Holland ihr Referat über das von Kopernikus beschriebene heliozentrische Weltbild und den langwierigen weltlichen und kirchlichen Prozess der Anerkennung dieses Weltbildes. Winfried Müller-Brandes las die Erzählung „Epitaph für Pinnau“ über eine Tischgesellschaft Kants und interpretierte die darin verwendeten Begriffe „Stern“, „Kreise und Ellipsenbahn“, „Docken, Kegel, Rhomben … die Pyramide“ als Verweis auf den Astronomen und Mathematiker Kopernikus. Gegen Abend reichte es für viele von uns noch zu einem Spaziergang ans frische Haff mit dem noch „unbestirnten“ Himmel.

Der nächste Tag ließ uns mit fachkundiger Begleitung die Wohn- und Arbeitsräume von Kopernikus kennenlernen, sein Grab im Frauenburger Dom und den Apothekergarten des mittelalterlichen Spitals, in dem er als Arzt wirkte. Der Besuch der Gedenkstätte für die Opfer der ostpreußischen Flüchtlinge im Januar/Februar 1945 schloss unsere Stunden in Frauenburg ab.

Gedenkstein in Frauenburg/Frombork © Edda Fricke.
Gedenkstein in Frauenburg/Frombork © Edda Fricke.

Bei sommerlichem Wetter empfing uns die beeindruckende Kulisse der Marienburg/Malbork und in ihrem Umfeld ein mittelalterliches Spektakel mit unerwartet hohem Publikumsandrang. Die zweistündige Führung informierte uns über die Geschichte des Deutschen Ordens, die Geschichte des größten Backsteinkomplexes der Welt mit seinen architektonischen Glanzlichtern (einschließlich des Verfalls im 17. und 18. Jahrhundert, der Rekonstruktion im 19. Jahrhundert und nach dem Zweiten Weltkrieg).

Abschluss in Danzig

Unser letzter Reisetag in Danzig bescherte uns nach dem ersten Teil der Stadtführung einen Vortrag im Herder-Institut. Der Germanist Prof. Mirosław Ossowski referierte über Günter Grass, Stefan Chwin und Pawel Huelle und ihre literarischen Werke zur Geschichte Danzigs.

Wegen Bobrowskis Erzählung „Junger Mann am Fenster“ gingen wir nicht nur zu den touristischen Anziehungspunkten im Umfeld der „Langen Gasse“, sondern auch zum ehemaligen Wohnhaus der Familie Schopenhauer, wo Bobrowski den jungen Arthur den Tod seines Vaters verarbeiten lässt.

Vortrag von Prof. Ossowski im Herder-Zentrum an der Universität Danzig/Gdańsk © Ostpreußisches Landesmuseum.
Vortrag von Prof. Ossowski im Herder-Zentrum an der Universität Danzig/Gdańsk © Ostpreußisches Landesmuseum.

Zum Abschluss unseres Bildungsprogramms besuchten wir das Europäische Zentrum der Solidarność.
Das Zentrum besteht aus einem Denkmal für die getöteten Werftarbeiter, dem historischen und symbolträchtigen Tor zur Leninwerft und dem an einen Schiffsrumpf erinnernden modernen Museumsbau. Der Gang durch die informative und anschauliche Ausstellung wurde durch die Art der intellektuellen Verarbeitung und emotionalen Beteiligung unserer Führerin auch für uns zu einem würdigen Abschluss einer gelungenen Reise.

Europäisches Zentrum der Solidarność in Danzig/Gdańsk © Edda Fricke.
Europäisches Zentrum der Solidarność in Danzig/Gdańsk © Edda Fricke.

Der Tag klang aus mit einem gemeinsamen Essen im Restaurant „Gdański Bowke“; die Reise wird aber lange nachwirken und hier und da zum Nacherleben und Nacharbeiten einladen: Denn wir haben, mit Bobrowskis Gedicht „Sprache“ (S. 177, GW Band 1) zu sprechen, durch etliche Begegnungen mit Menschen, Orten und Landschaften, einige, aber noch nicht hinreichend viele Schritte.

„ …
Auf dem endlosen Weg
zum Hause des Nachbarn“
gemacht, mit dem wir Tür an Tür leben.“

Edda Fricke und Peter Lehrmann sind Mitglieder der Johannes-Bobrowski-Gesellschaft und haben die Studienreise mitorganisiert.