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Projektreise nach Tallinn und Tartu

Dr. Martin Maurach, DAAD-Lektor am Germanistischen Institut der Karls-Universität Prag

Die Projektreise vom 19. – 24. August 2024 wurde von der Kulturreferentin für Ostpreußen und das Baltikum, Frau Agata Kern, in Zusammenarbeit mit dem DAAD-Lektor am Germanistischen Institut der Karls-Universität Prag, Dr. Martin Maurach, und der wissenschaftlichen Mitarbeiterin des Nordost-Instituts, Dr. Anja Wilhelmi, organisiert. Wie bei früheren Studienreisen konnten auch diesmal tschechische, polnische und österreichische Studierende, Deutschlehrende, Hochschullehrer und -lehrerinnen sowie weitere Multiplikatoren als Teilnehmende gewonnen werden.

Gruppenfoto der Studierenden und Multiplikatoren in Tallinn (früher Reval)

Kontrastreiches Estland

Estland zeigte sich uns bei meist strahlendem Sonnenschein aus teils gegensätzlichen Blickwinkeln zwischen der unterschwelligen Angst vor einer erneuten russischen Aggression und dem Stolz auf das Kulturhauptstadtjahr in Tartu (früher Dorpat). Diese Kontraste spiegelten sich auch in der Umgebung wider – zwischen der Glitzerwelt umgewandelter ehemaliger Industriebezirke, alten Holzhäusern und den Kalksteinbauten aus der Hansezeit. 

Tallinn: Vielschichtige Geschichte zwischen Besatzung und Unabhängigkeit

In der historischen Altstadt Tallinns

Gleich bei der Führung durch die Altstadt von Tallinn differenzierte sich dieses Bild weiter. Sowohl die Folgen des russischen Luftangriffs vom März 1944 waren Thema als auch allgemein die schmerzhaften Erinnerungen an Tallinn unter sowjetischer Zeit; dazu aber auch die postsozialistische Hauptstadt Estlands als Heimstätte des ‚baltischen Tigers‘ und das mittelalterliche und hansische damalige Reval, einst durch Deutsche mitgeprägt, heute als Tallinn Ziel von Touristen aus aller Welt.

Bereits die in der Gestaltung des Okkupationsmuseums dominierenden Farben Schwarz und Weiß sollen vor einseitigen und polarisierten Meinungen warnen, was auch durch die Architektur unterstrichen wird:  Nationalsozialistische und sowjetische Besatzungszeit werden im Untergeschoss präsentiert, die 1991 erlangte Unabhängigkeit im Obergeschoss. In der als sehr persönliche Erzählung angelegten Führung wurde vor allem an die sowjetische Besatzungszeit, einschließlich der antisemitischen Pogrome, erinnert.

Vom mittelalterlichen Tallinn (Reval) zum modernen Nationalmuseum in Tartu

Im Stadtarchiv von Tallinn ging es nach einem Einführungsvortrag über estnische Geschichte vor allem um das mittelalterliche und frühneuzeitliche Leben, das uns in der Schatzkammer durch Herrn Juhan Kreem, PhD, nahegebracht wurde, z.B. anhand der städtischen Privilegien und der ältesten estnischen Druckschriften.

Monströs in den Ausmaßen, überwältigend im Umfang der Sammlungen -und zugleich passend für die Hosentasche dank vom Besucher herunterzuladender Leittexte: So präsentierte sich das in Tartu errichtete estnische Nationalmuseum selbst als ein Monument des Stolzes auf die wiedererlangte estnische Unabhängigkeit – und auf moderne und ideenreiche Ausstellungstechnik. Die informative und lebendige Führung rief besonders die alltäglichen Versorgungsschwierigkeiten in sozialistischer Zeit ins Gedächtnis und setzte auch sonst interessante Schwerpunkte.

Im Stadtarchiv Tallinn mit Dr. Juhan Kreem

Tartu – vom historischen “baltischen Athen” zur modernen Universitätsstadt

Trotz einer mehr als hundertjähriger Unterbrechung des akademischen Lebens galt Tartu (früher Dorpat) dank der 1632 von Gustav Adolf gegründeten Universität als ‚baltisches Athen‘. Im Universitätsmuseum führte uns Kurator Herr Ken Ird, M.A. in diese Welt nicht nur anhand lebendiger Episoden aus der Wissenschaftsgeschichte (auch zum Selbst-Experimentieren) ein, sondern wies auch auf das Leben der deutschbaltischen Studentenverbindungen hin, eine für viele heute vielleicht fremdartige oder verlorengegangene Form von Gemeinschaft. Wie es sich an der Universität heute in den hochmodernen Räumen des Fremdspracheninstituts lebt und lehrt, wie sich an Schulen und Hochschulen das Mit- und Gegeneinander der estnischen, russischen und auch der deutschen Sprache im Unterricht widerspiegelt, erfuhr die Reisegruppe dann in einer sorgfältig vorbereiteten, entspannten Fragerunde mit Herrn Daniel Kulesza, M.A., dem Lektor des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Tartu.

Das Universitätsmuseum Tartu

Literarische Verbindungen in einer Stadt der Vielfalt

Höhepunkt und Abrundung des Tartu-Besuchs war die Stadtführung durch Frau Reet Bender, Professorin für Germanistik an der Universität und gebürtige Einwohnerin Tartus. Sie wies unter vielem anderen auf Schauplätze des Erinnerungsbuchs „Liebe Renata“ von Else Hueck-Dehio hin und erläuterte an einschlägigen Orten die wechselvolle, durch das Zusammenleben u.a. von Esten und Deutschen, Bürgern und Studenten geprägte Geschichte der Stadt.

Auf den Spuren von Liebe Renata in Tartu mit Prof. Reet Bender

Die Abendgespräche über literarische Werke aus dem baltischen Raum rundeten das Programm ab. Eine Sitzung widmete sich Sofi Oksanens viel beachteten Roman „Fegefeuer“ (2008), der eindringlich vor allem Frauenschicksale unter den wechselnden Besatzungen Estlands schildert. Eine zweite Veranstaltung hatte Else Hueck-Dehios oben erwähnte „Liebe Renata“ (1955) zum Thema. Bei dem Buch handelt es sich um eine sehr erfolgreiche, liebevolle Schilderung des deutschbaltischen Dorpat zwischen ca. 1900 und 1918 aus der Sicht einer Zeitzeugin. Ein weiteres Abendgespräch befasste sich mit Auszügen aus der Familiengeschichte eines Teilnehmers, dessen Vorfahren u.a. Dorpat als Universitätsstadt als auch die Umsiedlung der Deutschbalten sowie die NS-Besetzung Estlands miterlebt hatten.

Es wäre dringend zu wünschen, dass solche Studienreisen, die Lehrende und Lernende aus vier Ländern Mitteleuropas anhand von gemeinsamen Erlebnissen und Erinnerungen ins Gespräch bringen, auch in Zukunft weiter veranstaltet werden können.