Von Dr. Jörn Barfod
Unter der Adresse Herderstraße 1 (Ecke Kantstraße) in Lüneburg findet sich Immanuel Kant schon seit gut 70 Jahren, als geschnitztes Kopfbildnis unter neun weiteren berühmten Gestalten des Geistes- und Kunstlebens in früheren nordostdeutschen Regionen und Siedlungsgebieten. Darunter sind neben Kant noch Nicolaus Kopernikus, Simon Dach, Johann Georg Herder, Arthur Schopenhauer, E.T.A. Hoffmann, Ernst Moritz Arndt, Heinrich von Kleist, Lovis Corinth und Carl Schirren. Sie alle stehen symbolisch für die Arbeit, die in der hier 1952 eröffneten Nordostdeutschen Akademie (später Ostakademie) stattfinden sollte. Es war ein Ort der Vermittlung der Geschichte und Kultur der ehemaligen nördlichen Ostgebiete sein. Diese verstand man räumlich soweit die niederdeutsche Sprache reichte. Gemeint waren Pommern, Westpreußen, Danzig, Ostpreußen und die Gebiete der Deutschbalten.
Es gab in dem großen Bau der Akademie u.a. einen Hörsaal, eine Bibliothek, einen Gemeinschaftsraum, Räume für 40 auswärtige Seminargäste und Arbeitsräume für 12 wissenschaftliche Mitarbeiter. Zudem waren Werkräume für Künstler und Räume für ein Museum geplant. In der Tat war zur Eröffnung der bedeutende Silberschatz der Kompagnie der Schwarzhäupter aus Riga ausgestellt. So wäre an diesem Ort fast das erste Museum für die historisch ostdeutschen Regionen entstanden.
Doch Vieles blieb später unausgeführt, Einiges wurde aber jedenfalls bis um 1960 umgesetzt. Es entstand beispielsweise eine Organisation für Künstler aus dem einst nordostdeutschen Gebieten, die Ausstellungen organisierte, um den Geflüchteten beim schwierigen Neuanfang zu helfen, die sog. Nordostdeutsche Künstlereinung. In das Akademiegebäude zog 1953 ein aus Ostpreußen stammender Künstler ein, um hier zu leben und zu arbeiten: Klaus Seelenmeyer (1918 – 2010) war Schüler der Königsberger Kunstakademie bei dem Bildhauer Hans Wissel gewesen und fand in Lüneburg nach einer Zwischenstation in Bayern eine neue Heimat. Nach seiner Tätigkeit in der Nordostakademie wurde er Lehrer am Gymnasium Johanneum.
Für das Akademiegebäude schuf er eine große zweiflügelige Holztür für den Haupteingang. Auf den beiden Flügeln befinden sich zwanzig Kassettenfüllungen, im Tiefschnitt gestaltet mit den Portraitköpfen und je einer zugehörigen Inschrift, deren Buchstaben teils an gotische Minuskelschrift erinnert, mit den Namen und Lebensdaten der Dargestellten. Insgesamt sind es fünf Reihen zu vier Tafeln, unterhalb der dritten Reihe waagerecht gegliedert durch ein Rahmenholz, auf dem sich auch die Türklinke befindet.
2005 wurde die Ostakademie nach 53 – jähriger Tätigkeit geschlossen. Das Gebäude dient heute Aufgaben des DRK-Augusta-Schwesternschaft. An seine ursprüngliche Bestimmung erinnern jedoch immer noch die schwere zweiflügelige Holztür mit den Köpfen großer Geister aus dem Osten und die hier sicher nicht zufällig gewählten Straßennamen von Herder und Kant.