Von Dr. Joachim Mähnert, Direktor des Ostpreußischen Landesmuseums
„Deutschland“ wird in diesem Jahr 150 Jahre alt: Am 18. Januar 1871 wurde der preußische König in Versailles zum deutschen Kaiser Wilhelm I. ausgerufen. Er stand damit dem neuen „Deutschen Reich“ vor, einem Staatenbund, der den bisherigen „Flickenteppich“ der vielen deutschen Fürstentümer vereinte, wenn auch ohne Österreich. Die Bundesrepublik ist nach gültiger Rechtsprechung als Staat mit dem „Deutschen Reich“ von 1871 weitgehend identisch. Doch von großen Geburtstagsvorbereitungen hat man wenig gehört – das Kaiserreich genießt heute einen eher unsympathischen Ruf.
Dabei hatte es man lange herbeigesehnt. Schon während der so Befreiungskriege gegen Napoleon ab 1813 träumten viele von einem geeinten Nationalstaat – erfolglos. Gut 30 Jahre später scheiterten die Märzrevolutionäre von 1848 erneut. Damals war mit der Idee der Einheit die Hoffnung auf einen Aufbruch in die Moderne verbunden, eine Abkehr vom alten, mittelalterlichen Feudalsystem mit seinen vielen Fürstentümern und -häusern, das wirtschaftliche (unzählige Zollgrenzen) und gesellschaftliche Entwicklung verhinderte.
1871 dann wurde die Reichsgründung vielfach gefeiert. Nicht erst mit dem Sieg über Frankreich schwebte man damals in einer Sphäre nationaler Erhebung, die mit den mystischen Erzählungen der Romantik nicht nur untermalt, sondern resonanzartig verstärkt wurde. Vorstellungen von mittelalterlichem Heldentum und Ritterlichkeit schlugen sich in Musik, Malerei, Literatur und Architektur nieder. Die Vorstellung eines anderen Völkern angeblich überlegenen Deutschtums spielte dabei eine große Rolle. So wurde der Deutsche Orden als ein Kultur- und Zivilisationsbringer im Osten überhöht, sein langer Kampf gegen Polen und Litauer in Wort und Bild dramatisiert – natürlich mit deutschen Helden und polnischen Bösewichtern. Umgekehrt beschrieben in diesen Jahrzehnten europaweit gängiger Nationalismen polnische Autoren diese Ereignisse in genau gegensätzlichem Licht.
Derartige Erzählungen wirkten lange und beeinflussten noch Reformer, die mit den Ideen des ausklingenden 19. Jahrhunderts eigentlich zu brechen suchten. So auch das hier gezeigte lebensgroße Gemälde „Im Schutz der Waffen“ von Lovis Corinth (1858-1925). Corinth, neben Käthe Kollwitz sicher der bekannteste ostpreußische Künstler, gilt neben Max Liebermann als wohl wichtigster Vertreter des deutschen Impressionismus; unter den Nationalsozialisten wurden viele seiner Werke als „entartet“ angesehen.
Das Bild zeigt einen wachsamen, schwer gepanzerten und selbstbewusst dastehenden Ritter vor einem verschreckten, Schutz suchenden weiblichen Akt. Die Szene erklärt sich aus dem Entstehungsdatum 1915: Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 war Ostpreußen, die Heimat Corinths, sofort von russischen Truppen überrannt worden. Hunderttausende waren auf der Flucht, über 1.000 Ortschaften wurden schwer zerstört. Wenige Wochen später gelang dem kommandierenden Paul von Hindenburg ein wichtiger Sieg. Hindenburg stieg zum Generalfeldmarschall auf und wurde als „Retter Ostpreußens“ nahezu kultisch verehrt, nachdem bis März 1915 alle russischen Einheiten vertrieben werden konnten.
Sein Erfolg etablierte sich als „Schlacht von Tannenberg“, ein Propagandaname, der Bezug nimmt auf die ebenfalls so bezeichnete katastrophale Niederlage eines Heeres des Deutschen Ordens gegen Polen und Litauer im Jahre 1410. Mit dem Sieg über die Russen fast genau fünfhundert Jahre später sollte die damalige Schlappe revidiert und eine vermeintliche deutsche Überlegenheit untermauert werden.
So sehr sich das Corinth-Gemälde von der Akademiemalerei des Historismus unterscheidet – beide Personen etwa sind keineswegs „schön“ gemalt – belegt es doch die Kraft nationaler Mythen. Corinth hat häufiger die Figur des Ritters gemalt. Hier aber feiert er den Sieg Hindenburgs in Kenntnis des verbreiteten Narrativ eines jahrhundertelangen deutschen Kampfes im Osten, indem er sicher nicht zufällig die Armee Hindenburgs mit einer Ritterfigur allegorisiert; der weibliche Akt steht für die in Leben und Würde stets gefährdete deutsche Zivilbevölkerung, die gerade in Ostpreußen, der „Ostmark“, nur unter dem Schutz eines starken Militärs Sicherheit finden kann. Corinth hatte dieses Gemälde nie verkauft, sondern in seinem Atelier hängen, neben anderen Bildern, die ihn an Ostpreußen erinnerten.
Mit den nationalsozialistischen Verbrechen gerade im Osten Europas und der totalen Niederlage des Zweiten Weltkriegs haben sich in der Bundesrepublik nationale Erzählungen dieser Art weitgehend diskreditiert, was vielleicht auch die Feiermüdigkeit zum 150. erklären kann. Tatsächlich wird ein gemeinschaftliches Europa kaum funktionieren, wenn sich die einzelnen Staaten in national-konfrontative Abgrenzungsdiskurse verlieren; umso bedauerlicher ist daher die Beobachtung, dass ein zunehmend politisierter Umgang mit Geschichte die Vergangenheit erneut konfliktreich auflädt und das dialogische, Empathie geprägte Erinnern über Grenzen hinweg erschwert.
Ebenfalls abzulehnen ist allerdings auch die Tendenz, einen wohlfeilen Bewertungsmaßstab an historische Protagonisten heranzuziehen, der auf heutiges Wissen und aktuelle moralische Maßstäbe beruht. Besser zu sein und es besser zu wissen als frühere Generationen, mag mit dem Gefühl moralischer Überlegenheit belohnen und ist gewiss bequemer, als sich mit den damaligen Mentalitäten, Erfahrungshorizonten und Handlungsoptionen auseinanderzusetzen. Letztendlich entlarvt ein solches Vorgehen jedoch lediglich eine von Argumenten und Evidenzen möglichst abzuschottende, ideologisch geprägte Position. Wer bereit ist, sich dem Risiko eines unvoreingenommenen Umgangs mit Geschichte auszusetzen, ist jedenfalls in den meisten Museen bestens aufgehoben. Denn dort erfährt man nicht nur historische Fakten, sondern taucht ab in Lebenswelten, Ideen, Prägungen, Kunst und Kultur früherer Zeiten – kurz, ein lohnender Blick auf und in den Menschen von einst.