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Eine wundersame Rettung: ein silberner Bucheinband aus Königsberg

Eine der besonderen Herausforderungen des Ostpreußischen Landesmuseums beinhaltet das Zusammentragen der auszustellenden Kulturgüter: Keine andere Region Deutschlands wurde 1945 bei seiner Eroberung schwerer verwüstet, und nirgends waren die Kulturgutverluste höher. Vieles fiel den Kämpfen oder dem Chaos und den damit verbundenen Plünderungen von Flucht und Vertreibung zum Opfer. Manches verschwand auch als Reparationsleistung in die Sowjetunion und ist bis heute nicht wieder aufgetaucht. Zudem war die Erinnerung an die deutsche Geschichte der Region in den nachfolgenden Jahrzehnten bis 1990 unwillkommen oder gar unterdrückt mit entsprechenden Konsequenzen für das materielle Kulturerbe. Kein Wunder also, dass selbst vom Reichtum der Kaufmanns- und Universitätsstadt Königsberg, einst Zentrum des Luthertums, später der Aufklärung sowie der liberalen Demokratiebewegung von 1848, wenig materielle Zeugnisse erhalten blieben. Was das Salz für Lüneburg bedeutete, war in der ebenfalls früheren Hansestadt Königsberg der Bernstein. Die aus ihm geschaffenen Meisterwerke waren beliebte Fürstengeschenke; nicht nur das berühmte Bernsteinzimmer ist bis heute verschollen.

Als Residenzstadt der Herzöge Preußens und später Krönungsort seiner Könige entwickelte sich Königsberg zudem neben Augsburg, Nürnberg und Danzig zu einem Zentrum deutscher Goldschmiedekunst. Der erste Herzog Preußens, Albrecht, baute im 16. Jahrhundert eine wertvolle Bibliothek auf, zu deren herausragenden Stücken 20 wertvolle Silberbände gehörten. Diese „Silberbibliothek“ zählte zu den wertvollsten Kunstschätzen Ostpreußens und galt nach 1945 lange als verschollen; vor kurzem sind die meisten Bände glücklicherweise in Polen wiederaufgetaucht.

Kein Wunder also, dass viele der Ausstellungsstücke im Ostpreußischen Landesmuseum nur deswegen erhalten sind, weil sie bereits vor 1945 Ostpreußen verlassen hatten. Andere umgibt eine oft dramatische Rettungsgeschichte. Dies gilt auch für diesen fein gearbeiteten Silbereinband von 1681 für eine verloren gegangene liturgische Schrift. Er entstammt nicht der Silberbibliothek Herzog Albrechts, sondern dem Kirchenschatz der Löbenichtschen Kirche in Königsberg. Sein Weg nach Lüneburg war voller Abenteuer und Rätsel.

Die Kirche selbst fiel wie fast ganz Königsberg 1944 einem verheerenden Luftangriff zum Opfer. Glücklicherweise war das entbehrliche Silber kurz zuvor heimlich in eine verborgene Gruft unter dem Gotteshaus eingemauert worden. Nur drei Personen kannten den Ort, darunter der damalige Gemeindepfarrer Hugo Linck (1890-1976), aktives Mitglied der Bekennenden Kirche. Einige Monate später aber traf eine Luftbombe ausgerechnet die Kirchenruine: Die Wucht der Explosion öffnete das Versteck und warf den Schatz ungeschützt ans Tageslicht.

Pfarrer Hugo Linck 1955
© picture alliance / Gerd Herold

Pfarrer Linck fand dort wenige und meist beschädigte Reste des Schatzes und rettete, was er auf dem Fahrrad mitnehmen konnte. Bei der Eroberung der Stadt im April 1945 konnte er sie erfolgreich versteckt halten. Damals begann für die in der Stadt verbliebenen Menschen eine Zeit des Schreckens, in der Linck als „letzter Pfarrer von Königsberg“ höchste Anerkennung finden sollte. Denn das Ehepaar Linck war nicht vor der Front geflohen, sondern kümmerte sich nun aufopferungsvoll um die Menschen in den Ruinen der früheren Hauptstadt Ostpreußens. Geistiger Zuspruch war damals vielfach gefordert, es waren Jahre der Rechtlosigkeit und Gewalt, des Hungers, der Krankheiten, des Sterbens – ca. 100.000 Zivilisten kamen um. Erst ab 1947 ließen die Sowjets die ersten überlebenden gut 20.000 Deutsche ausreisen, 1948 galt das auch für das Ehepaar Linck. Hugo Linck hat diese Zeit in einem 1952 erschienen Buch eindrücklich geschildert.

Buchcover von “Königsberg – 1945-1948”
© Privatarchiv Linck

Erstaunlich, dass er in einer solchen Situation, selbst geschwächt und dem Tode nahe, das lebensgefährliche Risiko einging, die wenigen Silberstücke in seinem Gepäck herauszuschmuggeln. Die Rettung glückte. Im Westen angekommen gab er kurz darauf den Schatz einem Kollegen vom ostpreußischen Bruderrat, womit sich die Spur dieser Kostbarkeiten zunächst verlor. Linck selbst hatte über diese tollkühne Tat erst 1970 berichtet.

Aber neben Linck hatte ein weiterer der drei vom Gruft-Versteck Wissenden überlebt. Dessen Enkel, in Dresden mit den Erzählungen dieses Scahtzverstecks aufgewachsen, machte sich nach der Wende auf die Spurensuche. Zufällig geriet ihm der späte Bericht Lincks in die Hände – nun wusste er von der Übergabe an den Kollegen vom Bruderrat. Dieser war längst verstorben und lag in einem von ihm begründeten evangelischen Stift in Niedersachsen begraben, einst für Flüchtlinge aus dem Osten gedacht, aus dem sich eine Senioren- und Sozialeinrichtung entwickelt hatte. Und tatsächlich – dort hing an einer Wand im Treppenhaus ein aufwendig besticktes Altartuch von 1711 aus Löbenicht! Die Spur war wieder heiß. Weitere zeitintensive Nachforschungen förderten auch die übrigen Teile des Silberschatzes zutage. Diese frohe Botschaft wurde den Kuratoren in Lüneburg zugetragen, und das Verhandeln begann. Da die Provenienz sich eindeutig belegen ließ, war die Eigentumsfrage bald geklärt. Die Eigentümerin EKD, aber auch das evangelische Stift selbst, begrüßten eine Leihgabe an das Ostpreußische Landesmuseum, wo diese wertvollen Stücke mit ihrer spannenden Geschichte nun in der Dauerausstellung zu sehen sind.

Von Dr. Joachim Mähnert, Direktor des Ostpreußischen Landesmuseums

Beitragsbild: Bucheinband, Silber, vergoldet, Königsberg, 1681 © Ostpreußisches Landesmuseum mit Deutschbaltischer Abteilung