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Das Gemälde von Anton Graff im Ostpreußischen Landesmuseum

Es war ein nicht alltäglicher Anblick, der sich den Museumsmitarbeitern des Ostpreußischen Landesmuseums im Sommer 2013 bot: ein bayerisches Schloss voller Gemälde deutschbaltischer Provenienz von bemerkenswerter Qualität. Zur Übernahme der bedeutenden Sammlung derer von Nolcken waren sie – einmal quer durch Deutschland – nach Pitzling bei Landsberg gereist. Nur wenige Tage zuvor stand noch eine Zwangsversteigerung im Raum, die dieses einmalige Ensemble der Familie in alle Winde zu zerstreuen drohte. Als Glücksfall kann dann die Einigung mit der Erbengemeinschaft bezeichnet werden, so dass wir heute viele der kulturhistorisch wertvollen Objekte – aufwändig restauriert – in der neuen Deutschbaltischen Abteilung präsentieren können.
Schon damals stach ein Gemälde hervor: Es handelt sich um das lebensgroße Bildnis des livländischen Edelmanns Baron Hans Ludwig von Tiesenhausen, das der bekannte Schweizer Maler Anton Graff (1736-1813) 1804 in Öl auf Leinwand fertigte.

Zu sehen ist der 24jährige in Lebensgröße, lässig an einen Felsvorsprung gelehnt. Seine Haltung ist natürlich und von Selbstbewusstsein geprägt. Er ist in der Mode seiner Zeit gekleidet und frisiert. Sein ruhiger, zugleich offener Blick in die Ferne drückt Zuversicht, ja Lebensfreude aus – dieses positive Moment strahlen übrigens viele Porträts von Anton Graff aus, in denen die Augen zum aussagekräftigen Merkmal des Charakters des Porträtierten werden.
Anton Graff war nicht irgendein Maler – er war der Begründer des bürgerlichen Frauen- und Männerporträts in Deutschland des 18. Jahrhunderts und prominentester Porträtist seiner Zeit. Ihm werden 2000 Gemälde zugeschrieben, davon über 800 Gesichter. Unter den Porträtierten finden sich Regenten, Staatsmänner, Gelehrte, Dichter und Künstler seiner Epoche – von Friedrich dem Großen über Schiller bis Lessing.

Porträt von Hans Ludwig von Tiesenhausen (Anton Graff, 1804, Öl/Leinwand) © Ostpreußisches Landesmuseum

Aber auch weniger berühmte, aber kunstbewusste Adlige und Bürger gaben ihre Porträts bei ihm in Auftrag und reisten dafür an seine Dresdner Wirkungsstätte: Der hier porträtierte junge Baron stammte vom Gut Neuenhof in der russischen Ostseeprovinz Estland. Die Tiesenhausens waren im Rahmen der christlichen Missionierung im 13. Jahrhundert ins Baltikum gekommen und brachten es zu großem Grundbesitz und späterem Wohlstand. Ursprünglich stammten sie aus Nienburg an der Weser, also dem heutigen Niedersachsen.
Hans Ludwig von Tiesenhausen war ein wohlhabender Mann und konnte sich das Porträt eines so hochrangigen Malers wie Anton Graff leisten. Möglicherweise diente es als sein Hochzeitsgeschenk an die acht Jahre jüngere Marie von Beneckendorff, die er 1805 heiratete.

Viele Porträts deutschbaltischer Familien haben die Zeit nicht überdauert, andere haben mit ihren Besitzern das Baltikum verlassen. Auch dieses Porträt, das Anton Graff selbst 1805 an seiner Wirkungsstätte an der Kunstakademie Dresden zur jährlichen Ausstellung präsentierte, galt wenige Jahre später als verschwunden. Es hing lange Zeit in Lunia, einem estnischen Familiengut, wo Hans Ludwig von Tiesenhausen 1871 verstarb. 1920 zog es die Familie mitsamt eines Teil ihres Inventars, auch diesem Gemälde, im Zuge der Russischen Revolution, der Unabhängigkeit Estlands und der mit Enteignungen von Großgrundbesitzern verbundenen Agrarreformen nach Deutschland.
Heute gibt es in baltischen Museen in Estland und Lettland nur noch 5 bekannte Gemälde von Anton Graff. Ende des 18. Jahrhunderts soll es dort noch bis zu 60 Werke gegeben haben.

Auch das Ostpreußische Landesmuseum weiß um die herausragende Qualität dieses Gemäldes. Zum Auftakt der Deutschbaltischen Abteilung steht es stellvertretend für den adligen Deutschbalten des 18. und 19. Jahrhunderts, der durch seine politischen und ökonomischen Möglichkeiten als Land- und Gutsbesitzer die führende Schicht in den baltischen Ostseeprovinzen Liv- und Estland unter russischer Herrschaft bildete.


Von Dr. Eike Eckert, Kurator für die Deutschbaltische Abteilung im Ostpreußischen Landesmuseum