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Architektur des Wiederaufbaus in Ostpreußen ab 1915

Dr. Nils Aschenbeck während seines Vortrags im Osptreußischen Landesmuseum

Vortrag von Dr. Nils Aschenbeck am 18. April 2018
Der Architekturdozent und Journalist Dr. Nils Aschenbeck gab am Mittwochabend im Ostpreußischen Landesmuseum Lüneburg einen ausführlichen Einblick in die Entstehungs- und Ursprungsgeschichte der Architektur des Wiederaufbaus in Ostpreußen aus der Reformarchitektur, welche seit der Wende zum 20. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs den architektonischen Zeitgeist prägte.
Die Reformarchitektur, eine Geste des Protests gegen den Historismus, gegen Biedermeier, Schnörkel und alles, was vorgibt, etwas zu sein, das es gar nicht ist, wollte an erster Stelle eines: ein beginnendes Jahrhundert einleiten, das am absoluten Nullpunkt startet und organisch, naturbezogen und ehrlich wächst. Es sollte eine Architektur des Unbewussten sein, die örtliche Besonderheiten und Charakterzüge der ansässigen Menschen zur Grundlage nahm und keine große Planung oder Symmetrie anstrebte. Um 1900 wurden althergebrachte Werte umgewertet. Was bisher als Wahrheit galt, bezweifelte oder lehnte man gar ab. Neue Ideale und Wahrheiten wurden gesucht.
Als der Erste Weltkrieg ausbrach und Ostpreußen zum Kriegsschauplatz wurde, übertrug sich angesichts zerstörter Städte die bis dato ungebrochene Begeisterung der deutschen Bevölkerung für den „Reformkrieg“ auch auf den Wunsch nach Wiederaufbau, nach einem besseren, neuen Aufbau der zerstörten Gebiete. Private wie öffentliche Gelder flossen nach Ostpreußen, eben nicht nur, um Zerstörtes auszubessern, sondern um Idealstädte zu formen – moderne, sachliche Orte bar aller scheinheiligen Verzierungen, die den Menschen angeblich krank machten. Dieser Modernisierungsschub für Ostpreußen führte gar dazu, dass Flüchtende späterer Jahre angesichts Westdeutschlands die Stirn runzelten und staunten, „wie provinziell hier doch alles sei“.

Dr. Nils Aschenbeck während seines Vortrags im Osptreußischen Landesmuseum
Dr. Nils Aschenbeck während seines Vortrags im Osptreußischen Landesmuseum

Die Architektur des Wiederaufbaus ist ein wichtiges Stück ostpreußischer Kulturgeschichte, das nach der Niederlage 1918 bald verdrängt, nicht mehr beachtet und noch heute in architekturhistorischen Fachkreisen weitestgehend ignoriert wird. Auf die Reformarchitektur folgte schnell eine stark international ausgerichtete Architektur. Formen, Gebäude, die prinzipiell an jeden Fleck der Erde passen und eine Allgemeingültigkeit in sich tragen sollten. Nils Aschenbeck betonte, wie schade er dies finde. Denn es war eine avantgardistische Architektur, Symbol eines zuversichtlichen Schrittes Richtung Zukunft, die in den Jahren zwischen der Jahrhundertwende und dem Kriegsende entstand. Der Glaube daran, mit dem neuen Jahrhundert eine neue Architektur, ja: eine neue Gesellschaft, neue Kinder, neue, bessere Menschen in neuer Kleidung formen zu können, war stark und zuversichtlich. Diese neue Architektur sollte wieder bei den Wurzeln, bei der Natur anfangen, um rein von jeglichem Ballast sein zu können. Viele Loggien und Balkone lockten die Menschen an die Luft, dem Zeitalter der Tuberkuloseerkrankungen wollte man endgültig den Gar ausmachen. Vorhänge wurden in Häusern und Wohnungen der Reformarchitektur vergeblich gesucht – Sitzpolster galten bereits als Zugeständnis.
Obwohl auch im Museum auf ominöse Sitzpolsterungen verzichtet wird, war die Aufmerksamkeit der Zuhörer von Nils Aschenbecks Vortrag bis zum Ende ungebrochen und mündete zum Abschluss in einer angeregten Diskussionsrunde, in der Fragen geklärt und Erinnerungen an bestimmte Orte und ihre architektonischen Besonderheiten in Ostpreußen ausgetauscht werden konnten.

Svenja Szalla, Praktikantin