Kaliningrad? Auf meine Frage, gestellt an mehr als 100 junge Erwachsene, wer wisse, wo sich Kaliningrad befinde, heben sich weniger als zehn Hände. Kaliningrad ist fernstes Ausland – aus dem Blick verloren und nicht einmal dem Namen nach bekannt. Diese Exklave von der Größe Schleswig-Holsteins, eingezwängt zwischen Polen im Süden und Litauen im Norden – das soll Russland sein? Eine kleine Lektion in Geographie für Schüler, die ganz genau wissen, was südlich und westlich von Deutschland liegt, vom östlichen Europa aber offenbar nur sehr ungenaue Vorstellungen haben.
Königsberg? Erwartungsgemäß ist dieser Name nun bekannt, kann von dem einen oder anderen auch zugeordnet werden: Dass Ostpreußen bis 1945 Teil Deutschlands war, wissen viele. Aber Ostpreußen existiert ja nicht mehr, ist Geschichte, mehr gibt es da kaum zu wissen. Und Königsberg? Vom Erdboden verschwunden.
Im Winter 1945 waren es sieben Wochen zu Pferde, die die aus Friedrichstein bei Königsberg stammende spätere „ZEIT“-Herausgeberin Marion Dönhoff brauchte, um auf der Flucht aus Ostpreußen nach Vinsebeck in Westfalen zu gelangen. Und die 1200 Kilometer, die hinter ihr lagen, waren eine Distanz, die in den folgenden Jahrzehnten so unüberbrückbar war, dass sie ihre Heimat jahrzehntelang nicht wieder sehen konnte.
Im Frühjahr 2012 sind es 18 Stunden mit dem Linienbus, die Hamburg von Kaliningrad trennen. 690 Kilometer Luftlinie, damals wie heute. Aber da es Königsberg nicht mehr gibt und wir von Kaliningrad nichts wissen, ist es eine Reise in weite Ferne – in die unbekannte Geschichte Deutschlands und ebenso in die unbekannte Gegenwart Russlands.
Eine Schulreise einmal anders: Nicht Rom, Paris oder London, weiter entfernt, aber für Schüler irgendwie vertraut, selbst wenn sie zuvor nie dort waren; sondern Kaliningrad, kaum weiter als München, aber aufregende terra incognita. Das Angebot, eine solche Reise gemeinsam zu unternehmen, aus Anlass des 10-jährigen Todestages von Marion Dönhoff, kam von der Kulturreferentin am Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg, Agata Kern. Die Schüler und Lehrer des Hansa-Kollegs in Hamburg, einem Gymnasium des Zweiten Bildungsweges, haben nicht gezögert, sich auf dieses Abenteuer einzulassen.
Die Reise dauerte sechs Tage, vom 7. bis 13. Mai; sie war strapaziös, aufregend, einzigartig. Eine Reise in ein unbekanntes Land – und eine Reise in die eigene Vergangenheit. Diese Spannung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, die so unterschiedlich, aber gleichermaßen fern sind, war es wohl, die alle Teilnehmer mit Aufregung der Fahrt entgegensehen ließ und unterwegs eine Faszination hervorbrachte, der sich keiner entziehen konnte. Start war am Montagnachmittag am Hamburger Busbahnhof. Russland begann aber schon im Bus: 19 deutsche Schüler und zwei deutsche Lehrer in Begleitung von Agata Kern und ansonsten nur russische Fahrgäste und russische Busfahrer. Gegen Mitternacht waren wir in Polen, und Kaliningrad immer noch endlos weit entfernt. Angesichts der Enge im Bus war an Schlaf kaum zu denken. Ostpreußen empfing uns am nächsten Morgen mit Sonnenschein; wenig später hatten wir auch die russische Grenze passiert und pünktlich um zehn Uhr, aber völlig erschöpft, konnten wir unsere Zimmer im Hotel „Kaliningrad“, mitten im Zentrum der Stadt, beziehen. Vier Stunden hatten wir zur Erholung, bevor unser russischer Reiseführer Sergej zu uns stieß und das Besichtigungsprogramm begann. Aber für viele Schüler war schnell alle Müdigkeit vergessen und schon in diesen vier Stunden stürzten sie sich in das Getümmel zwischen Kaliningrader Siegesplatz und Königsberger Dom.
Sergej erwies sich als der perfekte Reiseführer: Er kennt die Geschichte jeder Straße und jedes Gebäudes; er stellt Kontakte her, die anderen Touristen völlig unmöglich wären; er ist der perfekte Organisator und von unerschütterlicher Geduld mit den 22 Gästen aus Deutschland. Wir sehen den Dom, den Hafen und den Siegesplatz. Plattenbauten, orthodoxe Kathedralen und überraschend sorgfältig restaurierte Backsteingebäude aus deutscher Zeit.
Und immer hat Sergej irgendeine Überraschung für uns bereit: Das Boot, das der von der Anreise und dem ersten Stadtrundgang erschöpften Gruppe Gelegenheit gibt, bei einer Hafenrundfahrt im Sonnenschein die Beine baumeln zu lassen; oder das Orgelkonzert, das der Organist des Königsberger Doms eigens für unsere Gruppe gibt.
Zwei Tage fährt uns Oleg, unser Busfahrer, aus der Stadt heraus quer durch das Gebiet: In Pillau feiert die Marine am 9. Mai das Ende des Großen Vaterländischen Krieges. Am Stadtrand befindet sich das Gräberfeld für ungezählte Soldaten aller Nationen, die in eben diesem Krieg ihr Leben verloren haben. Der Strand davor lädt zum Bernsteinsammeln ein und eine Besichtigung des Bernsteintagebaus in Palmnicken darf im Programm nicht fehlen. Wieder wenige Kilometer weiter am weißen Ostseestrand von Palmnicken dann das Mahnmal für die 7000 Ende Januar 1945 in eisiger Nacht am Strand von Nazis erschossenen jüdischen Frauen – bevor es abschließend in den Touristentrubel des Seebades Rauschen geht – Kontraste, so heftig, dass sie manchmal schwer auszuhalten sind.
Der folgende Tag führt uns nach Insterburg, Gumbinnen, Trakehnen, Eydtkuhnen. Dörfer und Provinzstädte, deren Namen wir vielleicht gerade noch kennen, die aber, wie Marion Dönhoff formuliert hat, „keiner mehr nennt“. Namen, mit denen ein 25-jähriger heute kaum noch etwas verbindet.
Fällt in Kaliningrad der Kontrast zwischen deutscher, sowjetischer und moderner russischer Architektur ins Auge, so ist es in der Provinz der oft nur mit Mühe, oft gar nicht aufgehaltene Verfall der Gebäude, gleich ob aus Vor- oder Nachkriegszeit, der uns manchmal ratlos macht. Und selbst Landschaft lässt sich, so lernen wir, zerstören: Von der großen Kulturlandschaft der ehemaligen Kornkammer Ostpreußen ist selten mehr übrig geblieben als verwilderte Wiesen. Bauerndörfer sind zu Hunderten verschwunden – entstanden ist dafür weite, einsame, sich selbst überlassene Natur, und mindestens die Störche lieben diese Landschaft …
Die stärksten Erlebnisse sind aber die persönlichen Begegnungen mit Menschen, die dieses Land endlich selbst in die Hand nehmen – die die Geschichte des Landes zu ihrer eigenen machen, die Zukunft gestalten wollen und die Begegnung mit den Besuchern aus dem fernen Deutschland suchen: Da ist die Frau aus der protestantischen Gemeinde der Salzburger Kirche in Gumbinnen – sie erzählt uns von der Unterdrückung alles Religiösen in sowjetischer Zeit und vom Aufbau des Diakoniezentrums in den letzten Jahrzehnten. Die Kollegin aus der Berufsschule im Gebäude des ehemaligen Friedrichgymnasiums von Gumbinnen – eine engagierte Deutschlehrerin, die auf der Suche nach Kooperationspartnern in Deutschland ist. Oder die Chefredakteurin und der Übersetzer des „Königsberger Express“, die das Kunststück fertig gebracht haben, als Russen in Kaliningrad eine Zeitung in deutscher Sprache zu etablieren. Ein Praktikum für Hamburger Studenten in der Redaktion dieser Zeitung? Am Ende der Reise kam unter den Schülern diese Frage auf – und sie zeigt: Wir kommen wieder …
Eine Schulreise nach Kaliningrad: Das hieß, sich auf etwas völlig Neues einzulassen; die üblichen Reisepfade zu verlassen, auf denen sich der deutsche Durchschnittstourist und oft genug auch Schulen immer wieder bewegen. Belohnt wird dieses Wagnis mit der Begeisterung der Schüler. Diese Begeisterung zeigt: Ein Reiseziel muss weder schön sein noch im Trend liegen, um uns zu berühren. In einer scheinbar ganz fremden Kultur die Spuren der eigenen zu suchen; und in Russland Menschen zu begegnen, die in ihrer Heimat die Spuren deutscher Geschichte pflegen, weil sie sie als gemeinsame Geschichte begreifen, im Schrecklichen wie im Guten – das lässt niemanden kalt.
Und für 21 Hamburger Schüler und Lehrer ist am Ende dieser Reise Königsberg nicht mehr tot und Kaliningrad nicht mehr fremd.
Holger Wendebourg, Lehrer am Hansa-Kolleg in Hamburg