von Holger Wendebourg (Oberstudienrat am Campus Zweiter Bildungsweg, Hamburg)
Seit mehr als zehn Jahren verbindet das Hansa-Kolleg in Hamburg eine Kooperationmit dem Kulturreferat für Ostpreußen und das Baltikum am Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg. Seit Beginn dieses Jahres ist das Hansa-Kolleg nun aufgegangen im Campus Zweiter Bildungsweg, aber am Fortbestand unserer Kooperation hat das nichts geändert. Im Gegenteil: Im Oktober 2023 haben wir nun schon die achte gemeinsame Projektreise unternommen, und diesmal war zudem das Nordost-Institut in Lüneburg mit im Boot. Am 2. Oktober flogen 16 Kollegiatinnen und Kollegiaten in Begleitung ihrer Lehrer Sabine Stingl und Holger Wendebourg, der Kulturreferentin am Ostpreußischen Landesmuseum, Agata Kern, sowie Anja Wilhelmi vom Nordost-Institut nach Riga.
Im Zentrum unserer Reise sollte Mark Rothko stehen – jener als Marcus Rothkowitz in Dwinsk, ehemals Dünaburg, heute Daugavpils, geborene lettisch-jüdische Künstler ursprünglich russischer Staatsbürgerschaft, der als Amerikaner mit seiner Farbflächen-Malerei zu Weltruhm gelangen sollte. Womit wir mitten im Zentrum unserer Reise angekommen wären – Lettland: Was ist das? Lette zu sein, Russe, Jude, Amerikaner: Was ist das? Eine Identität zu haben: Was ist das? Diese Frage haben sich unterwegs nicht nur irgendwie fraglos Deutsche aus Ostholstein gestellt, sondern auch junge Menschen, die ihre Identität irgendwo zwischen Afghanistan und Deutschland oder zwischen Russland, Kasachstan und Deutschland finden müssen.
Riga begrüßte uns mit Wolken und Regen – treuen Begleitern unserer gesamten Reise, die nur selten mal der Sonne wichen, gelegentlich aber auch von Sturm und Hagel ergänzt wurden – was sonderbarerweise nur dazu führte, dass die Stimmung auf unserer Reise von Tag zu Tag besser wurde. Und in Riga begrüßte uns auch ein Lettland, das im Herzen der Europäischen Union angekommen zu sein scheint, in der hanseatische geprägten Altstadt, durch wie wir am Folgetag geführt wurden, mit makellos sanierten Kaufmannshäusern, die manchen nicht zufällig an Lübeck oder Wismar erinnerten. Ein Besuch beim Verein der Letten und Deutschbalten in der „Domus Rigensis“ rundete diesen Eindruck ab – die Deutschbalten sind längst vertrieben, aber ihre Kultur erkennen wir an jeder Straßenecke. Und auch ein Besuch im Lettischen Nationalen Kunstmuseum zeigte uns, dass die lettische Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts auf der Höhe und im Trend der Malkunst im Rest Europas war und sich qualitativ und stilistisch mühelos in eine Ausstellung der west- und mitteleuropäischen Malerei dieser Zeit integrieren ließe. Man könnte auch sagen: Wir fühlten uns wie zu Hause.
Am folgenden Morgen besuchten wir am Rand des ehemaligen Ghettos die Ruine der dortigen Synagoge sowie das Denkmal der Judenretter und gingen weiter zum Jüdischen Museum. Dass die deutschbaltische Kultur, wie wir am Vortag gelernt hatten, Vergangenheit ist, ist nicht zu trennen von der Vernichtung der großen jüdischen Kultur Lettlands durch Hitler-Deutschland.
Dass Lettland aber, wenn man es so sagen darf, auch heute nicht nur lettisch ist, das verstanden wir erst später – denn am Nachmittag setzten wir uns in den Zug und fuhren gut drei Stunden durch endlose Wälder Richtung Osten, bis kurz vor die belarusische Grenze und landeten im Dunkeln in der tiefsten lettischen Provinz – in Daugavpils, einer stillen Kleinstadt am Rande der Europäischen Union, in der wir um 21 Uhr mit Mühe noch ein Restaurant fanden, in dem man – hervorragend! – für uns kochen mochte, und wir waren in dem Moment froh, dass wir mehrere unter uns hatten, die des Russischen mächtig sind. Fremder als hier, wenngleich willkommen, kann man sich als Mitteleuropäer wohl kaum fühlen.
Und das hatte seine Gründe, wie wir am Donnerstag bei einer Stadtführung im Dauerregen erfuhren. Natalia, russischsprachige Lettin, wies uns in fließendem Deutsch darauf hin, dass wir uns in der größten russischsprachigen Stadt der Europäischen Union befänden, der Geburtsstadt von Marcus Rothkowitz alias Mark Rothko, in dessen Kinderzeit in Dwinsk die Mehrheit Jiddisch sprach. Gleichwohl befinden sich auf dem berühmten Kirchenhügel der Stadt einträchtig-eindrucksvoll nebeneinander christliche Kirchen der Orthodoxen, der Orthodox-Altgläubigen, der Katholiken und der Lutheraner. Die Synagoge suchten wir vergeblich. In der Zitadelle von Daugavpils begegneten wir dann aber endlich Mark Rothko sozusagen persönlich – im ihm gewidmeten Mark Rothko-Zentrum lernten wir, wie aus dem russisch-lettisch-jüdischen Rothkowitz der große Amerikaner Mark Rothko wurde, dessen Bilder heute jeder kennt – und von denen in einer Art Schatzkammer gleich mehrere Originale von ihm in der Zitadelle hängen.
Am Samstag hatte nun jeder Reiseteilnehmer die Gelegenheit, seinen eigenen Interessen nachzugehen. Einige besuchten das neu eröffnete Okkupationsmusem, um mehr über die Geschichte der deutschen und russischen Fremdherrschaft im Lettland des 20. Jahrhunderts zu erfahren. Andere erkundeten das außergewöhnliche Bauwerk der Nationalbibliothek oder durchstreiften das Jugendstilviertel. Die Hartgesottensten ließen sich vom Sturm nicht abschrecken und fuhren ans Meer nach Jurmala mit seiner einzigartigen zaristisch geprägten Bäder-Architektur. Bevor es am Sonntag heimwärts gehen sollte, beschlossen wir, Deutsche, Deutsch-Russen, Afghaner, Polen, den Abend in der lettischen Hauptstadt bei georgischer Küche und stießen am Ende bei armenischem Brandy auf Lettland an – das kleine, stolze Land am Rande des freien Europa, von dem wir alle lernen können, was es heißt, vor allem eines sein zu wollen, ganz gleich, ob wir nun Lettisch, Deutsch oder Russisch sprechen: in Frieden frei!